Die ALSA-Bushaltestelle gegenüber der Herberge flirtet mich heftig an und schlägt mir vor, doch einfach in den Bus zu steigen, in der nächsten größeren Stadt ein Hotel zu nehmen, eines mit Heizung und heißem Wasser. So dass man eine heiße Dusche nehmen kann. Mit weißer, frischer Bettwäsche, einem weißen, gestärkten Laken. „Wozu hast du denn die verdammte Kreditkarte dabei“, fragt mich die Bushaltestelle nachdrücklich. Ich bin mir sicher, ich habe vorher noch nie eine Bushaltestelle kennengelernt, die mehr Überzeugungskraft hatte als diese eine im verregneten Baskenland, am ersten Tag im März des Jahres 2016.
Ich war gerade aus der Herberge in Deba, einem kleinen Städtchen, herausgetreten, in der ich eine klamme und kühle Nacht verbracht hatte. Eine schnelle Katzenwäsche im kalten, etwas schmuddeligen Waschraum. Danach in die leider nicht ganz trocken gewordenen Klamotten, Voltaren auf die Fußinnenseiten – heute ist es mit dem rechten Fuß sehr arg – die feuchten Socken drüber. Auch die Wanderstiefel sind in der kalten, feuchten Herberge über Nacht nicht ganz trocken geworden.
Egal – alles was geht „zwiebele“ ich übereinander. Zumindest ein paar Stunden wird so der Regen abgehalten und man bleibt auch durchnässt noch einigermaßen warm. Rucksack auf den Rücken, ein letzter Blick in den Schlafsaal, ob man alles dabei hat und dann hinaus. Hier traf ich nun auf diese Bushaltestelle. Am Abend als ich die Herberge als einziger Gast erreichte, war sie mir gar nicht aufgefallen.
„Wem willst du denn eigentlich beweisen, dass du ein harter Hund bist“, fragt mich die Bushaltestelle weiter. „Sieht doch niemand, dass du mal eine Etappe mit dem Bus fährst“, säuselt sie verlockend. „Du bist nicht der erste Pilger, der auch mal eine Auszeit mit dem Bus oder Zug nimmt“, pflichtet nun die gegenüber liegende Bahnstation der Bushaltestelle bei. „Außerdem ist die Regenwahrscheinlichkeit, laut deiner Wetterapp, heute den ganzen Tag um die 80% herum“, insistiert die Bahnstation. „Und viel billiger als in Deutschland sind wir hier auch. Und denke doch auch mal an deine armen Füße“, mischt sich der bereitstehende Zug ein.
Die Verlockungen der Bushaltestelle übertönt nun zum Glück die Bar an der Ecke, die mir Kaffee und Croissants anbietet. Während ich meinen Kaffee zu mir nehme, kommen mir die wahnsinnig schönen und eindrucksvollen Bilder meiner gestrigen Etappe ins Gedächtnis. Die Wetterapp hatte gestern auch gelogen, warum sollte sie mir also heute die Wahrheit sagen. Ich hatte bestimmt zwei Stunden nur Sturm ohne Regen. Der Sturm erwies sich zudem als große Hilfe, in dem er mich die schmalen steilen Pfade hinaufpustete.
Während ich meinen Café con leche schlürfe und das riesige Croissant mit Messer und Gabel verputze, breiten sich vor meinem inneren Auge die gestrigen Eindrücke aus. Wild und ungezähmt zeigte sich mir die Biskaya. Wunderschön, zerklüftet und einsam ist die Küste im März.
Die körperliche Anstrengung und die Macht der Naturgewalten sorgten dafür, dass ich mich auf den Moment konzertierte. Auf den Weg. Auf das was ich sah und erlebte. Mein Alltag war das erste mal, seit dem ich mich auf den Pilgerweg gemacht hatte, auch in meinem Kopf ca. 2000 Kilometer weit entfernt. Nun war ich frei und offen für das, was mir auf dem Weg begegnen würde. Das war es doch, was ich wollte! Den Kopf frei bekommen. Mich auf das einlassen, was mir auf dem Weg begegnen würde. Deswegen habe ich das Abenteuer „Camino de la Costa“ im März doch gewagt.
Eine neue Etappe liegt vor mir. Ein neues Abenteuer. Was würde diese Etappe mir bringen? Was würde ich erleben? Ich lasse Bahnstation und Bushaltestelle grußlos zurück und mache mich auf den Weg nach Zenarruza.
Am Abend in der Herberge des Klosters erschöpft aber zufrieden angekommen, nehme ich an der Vesper der Mönche teil gemeinsam mit einem weiteren Pilger. Immerhin schon mal zu zweit in der Herberge. Beide sind wir ganz offensichtlich froh darum, die Möglichkeit zu haben uns miteinander auszutauschen. Ich erzähle Günther von den Verführungsversuchen der Bushaltestelle. Er lacht verständnisvoll. Ein Mönch bringt uns eine große, heiße und leckere Portion Gemüsesuppe, Günther hat Wein dabei, ich Brandy.
Ich notiere in meinem Tagebuch am Abend noch schnell: Es geht auch darum, dass ich mich nicht selbst bescheiße! Und dann ab in die Falle!
Der Küstenweg ist Kopfsache. „Mr. Camino“ testet Deinen Willen, deine Ernsthaftigkeit, deine Standhaftigkeit und dein Durchhaltevermögen. Zusammengefasst also Deine Einstellung. Er belohnt Dich jeden Tag wieder dafür, dass Du diese Prüfungen auf dich nimmst. Es ist ein großartiges Erlebnis.